Offener Brief: Asylsozialberatung in Unterkünften
Offener Brief des Münchner Flüchtlingsrates und des Bayerischen Flüchtlingsrates
Auf Anweisung der Bayerischen Staatsregierung wurde am 24.03.2020 der Zutritt der Asylsozialberatung zu allen staatlichen Unterkünften massiv eingeschränkt, in vielen Fällen verweigert. Berufen wurde sich hier auf einen adäquaten Infektionsschutz in den Unterkünften. Zweifelsohne ist das Eindämmen des Infektionsrisikos in den Unterkünften und der Schutz der Bewohner*innen wichtig. Dabei wird jedoch vernachlässigt, dass das größte Infektionsrisiko die derzeitige Form der Massenunterbringung ist. Es steht nicht im Verhältnis, die systemrelevante Beratung von Asylsuchenden gegen das Ansteckungsrisiko auf diese Weise abzuwägen. Die Bewohner*innen werden in dieser kritischen Situation somit im Stich gelassen. Einem effektiven Schutz vor dem Corona-Virus ist am besten Rechnung getragen, wenn alle Teile der Gesellschaft bestmöglich über die Schutzmaßnahmen, Regelungen und Restriktionen informiert sind. Diese Funktion wird in den Unterkünften fast ausschließlich von der Asylsozialberatung ausgeführt. In ihrer Unterstützer*innen- und Berater*innen-Funktion genießt sie ein enormes Vertrauen, verfügt über die nötigen Mittel für die Informationsweitergabe, Aufklärung, Beratung und Unterstützung und hat die größte Reichweite. Der eingeschränkte Zutritt der Sozialdienste zu den Unterkünften wäre unter Normalbedingungen schon fahrlässig, unter der gegebenen Ausnahmesituation ist es unverantwortlich. Derzeit wird die Asylsozialberatung in den Unterkünften sehr unterschiedlich und standortabhängig durchgeführt – einige Sozialdienste sind gar nicht erreichbar, andere telefonisch oder per Mail, weitere sind noch in der Unterkunft tätig. Für Geflüchtete in Bayern ist weiterhin unklar, ob und wo sie Beratung in Anspruch nehmen können. Wir fordern deshalb von der Bayerischen Staatsregierung und den jeweiligen Bezirksregierungen:
- Uneingeschränkten Zugang der Asylsozialberatung zu allen staatlichen
Unterkünften Unter Berücksichtigung der Infektionsschutzmaßnahmen für
Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen muss der Asylsozialberatung Zugang
zu allen staatlichen Unterkünften gewährt werden. Hierbei kann die
Vorgehensweise der Landeshauptstadt München oder auch der Regierung von
Unterfranken, die weiterhin der Asylsozialberatung Zutritt zu ihren
Unterkünften gewährt, als Vorbild genommen werden.
- Umfassende und verständliche Aufklärung der Bewohner*innen Eine
umfassende und verständliche Aufklärung der Bewohner*innen über
eventuelle Quarantänemaßnahmen, Ausgangsbeschränkungen und
Infektionsschutzmaßnahmen muss überall gewährleistet sein. Schriftliche
Aushänge genügen an dieser Stelle nicht. Es muss dafür Sorge getragen
werden, dass ALLE Bewohner*innen bestmöglich informiert sind. Dazu
bedarf es unbedingt konstanter und kompetenter Ansprechpartner*innen für
die Bewohner*innen vor Ort. Dies ist am besten zu gewährleisten, wenn
die Asylsozialberatung uneingeschränkten Zugang zu den Unterkünften
erhält. Sicherheitsdienste und Einrichtungsbetreiber*innen können die
Funktion der Asylsozialberatung nicht übernehmen. Beratung per Telefon
oder über das Internet ist nicht ausreichend und kann die Funktion der
Unterstützung durch Ansprechpartner*innen vor Ort nicht ersetzen.
- Anerkennung der Asylsozialberatung als systemrelevanter Akteur in den staatlichen Unterkünften Die Asylsozialberater*innen stehen in der besonderen Verantwortung, schutzsuchende Menschen im Umgang mit der gegenwärtigen Situation zu unterstützen. Sie erfüllen somit eine unverzichtbare gesellschaftliche Funktion, die gerade in Zeiten, in der Solidarität den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantiert, unverzichtbar ist. Wie auch den Sicherheitsdiensten muss den Asylsozialberater*innen die Möglichkeit gegeben werden, ihre fundamentalen Aufgaben angemessen durchführen zu können. Ihnen kommt eine Schlüssel- und Mittlerfunktion beim Zugang zu Gesundheit, Recht und Bildung von Asylsuchenden zu. Die Sicherheitsdienste können nicht alleine Sorge für die Sicherung des Wohls aller Bewohner*innen tragen. Dafür sind sie weder ausgebildet noch ist das ihre Aufgabe. Die Identifikation von vulnerablen Gruppen, wie Kinder, alte, kranke und behinderte Menschen, Schwangere und Wöchnerinnen sowie das Einleiten geeigneter Maßnahmen zum Schutz dieser Personengruppen fallen in den Aufgabenbereich der Sozialdienste und können nicht durch die Sicherheitsdienste kompensiert werden. Weiter muss die Asylsozialberatung in Überlegungen zur Umsetzung des Infektionsschutzes in den jeweiligen Unterkünften miteinbezogen werden. Die Asylsozialberatung vor Ort kann relevante Informationen über notwendige „Entzerrungen“, mangelnde Hygienevorkehrungen oder Identifizierung von Risikopersonen liefern.
Angemessener Infektionsschutz kann nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe bewältigt werden. Sozialdienste, deren explizite Aufgabe darin besteht, Ansprechpartner für die sozialen Belange vulnerabler Gruppen zu sein, erhalten in Krisenzeiten eine noch größere Bedeutung. Vor diesem Hintergrund ist das verordnete Betretungsverbot für Sozialdienste in staatlichen Unterkünften unverständlich und fahrlässig. Für eine angemessene Umsetzung des Infektionsschutzes ist der Zugang für Asylsozialberatung unerlässlich. Zeigen Sie sich verantwortungsbewusst und solidarisch – genehmigen Sie den Mitarbeitenden der Asylsozialberatung den Zugang zu allen staatlichen Unterkünften!
Update: Mittlerweile gibt es eine Antwort des Bayerischen Innenministeriums auf den offenen Brief. Zufriedenstellend ist diese unserer Ansicht nicht. Statt der Asylsozialberatung nur eingeschränkten Zugang zu gewähren, sollten besser Maßnahmen ergriffen werden, dass Ansteckungen erst gar nicht möglich sind.
Erstunterzeichner*innen
Münchner Flüchtlingsrat e.V.
Bayerischer Flüchtlingsrat e.V.
AKS – Arbeitskreis kritische Soziale Arbeit
Ärzte der Welt e.V.
DBSH – Deutscher Bundesverband für Soziale Arbeit e.V., Landesverband Bayern
IMMA e.V.
BEFORE e.V.
LeTRa – Lesbenberatungsstelle
SUB – Schwules Kommunikations- und Kulturzentrum München e.V.
Münchner Aidshilfe e.V.
Trans*Inter* Beratungstelle
pro familia München e. V.
JUNO – eine Stimme für geflüchtete Frauen
Friedensinitiative Traunstein Traunreut Trostberg
Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Rechtsanwaltskanzlei Wächtler und Kollegen
Rechtsanwalt Felix Briesenick
Rechtsanwältin Maria Kalin
Rechtsanwalt Christoph UNrath
Rechtsanwalt Albrecht Göring
Rechtsanwältin Martina Synott
Rechtsanwältin Alexandra Kilian
Initiative für Flüchtlingsrechte im Landkreis Traunstein
AG Soziale Arbeit der Hochschule München
Prof. Dr. Angelika Beranek Studiendekanin der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Prof. Dr. Astride Velho Internationale Hochschule IUBH, Soziale Arbeit, Campus München
Prof. Dr. Nicole Pötter Hochschule München
Gunda Sandmeir Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften, Hochschule München
Kerstin Jost Lehrbeauftragte und Mitarbeiterin der Hochschule München
Prof. Dr. Angelika Iser Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften, Hochschule München
Prof. i.R. Dr. Gerd Mutz Ehem. Hochschule München
Dr. Rosário Costa-Schott Dozentin
Prof. Dr. jur. Susanne Nothhafft Katholische Stiftungsfachhochschule München
Prof. Dr. Bernhard Vondrášek Katholische Stiftungshochschule München, Campus Benediktbeuern
Bayerische Ärzteinitiative für Flüchtlingsrechte
Dr. Thomas Nowotny Kinderarzt, Stephanskirchen
Dipl. Psych. Michaela M. Müller Psychotherapeutin
Dr. Dr. Richard Bischoff Kinderarzt, Psychotherapeut, z.Zt. Bulawayo/Simbabwe
Dr. med. Gabi Dietl, Truchtlaching
Anne Lück
Dr. med. Maria Möller, Augsburg
Dipl. Psych. Michaela Müller Psychotherapeutin, München
Dr. med. Renate Schunck, Traunstein
Dr. med. Susanne Simen Leitende Oberärztin Psychiatrie und Psychotherapie, Nürnberg
Dr. Marion Winnewisser Kinder- und Jugendpsychiaterin, München, Refudocs
Dr. med. Waltraud Wirtgen, München
Sylvia Schilbach Helferkreis Bad Endorf