Ein Jahr Chancenaufenthalt in Bayern – neue Perspektive mit vielen Fallstricken
Gemeinsame Pressemitteilung von Bellevue di Monaco, Münchner Flüchtlingsrat und Bayerischem Flüchtlingsrat
Im Rahmen eines vom Bayerischen Flüchtlingsrat, dem Bellevue di Monaco und dem Münchner Flüchtlingsrat veranstalteten Fachtages haben am Samstag, 20.01.2024, Jurist:innen, Politiker:innen, Sozialarbeiter:innen und Betroffene gemeinsam die Erfahrungen aus dem ersten Jahr des neuen Chancenaufenthalts ausgewertet und Bilanz gezogen. Beim sog. Chancenaufenthaltsrecht handelt es sich um einen neuen Aufenthaltstitel für Personen in Duldung mit langjährigen Voraufenthaltszeiten. Es wird für 18 Monate ein legaler Aufenthalt gewährt, der dazu genutzt werden soll, die Voraussetzungen für einen Integrationsaufenthalt – z.B. Sprachkenntnisse, Identitätsklärung sowie die überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts – zu erfüllen. Ausschlussgründe sind höhere Vorstrafen und Identitätstäuschung, außerdem handelt es sich um eine Stichtragssregelung.
Mit Inputvorträgen durch eine Rechtsanwältin und eine Beratungsstelle erhielten die knapp 80 Teilnehmenden einen Überblick über die Entscheidungspraxis der Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte. In den anschließenden Workshops setzten sich die Teilnehmenden mit den Problemen bei der Beantragung des Chancenaufenthalts und dem Übergang in einen Integrationsaufenthalt auseinander und erarbeiteten Strategien, um politisch auf eine Nachbesserung des Gesetzes hinzuwirken. In einer abschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Gülseren Demirel (MdL, Bündnis 90/Die Grünen), Dr. Karl Straub (Integrationsbeauftragter der Bayerischen Landesregierung, MdL CSU), Mareike Prinz (Ausländerbehörde München) und Rechtsanwältin Gisela Seidler, wie die Erfahrungen aus dem ersten Jahr zu bewerten sind.
Im Jahr 2023 wurde in Bayern bei insgesamt 14.500 eingegangenen Anträgen knapp 9.000 Mal ein Chancenaufenthalt oder ein höherwertiger Aufenthaltstitel gewährt, abgelehnt wurden 1.300 Anträge. Jedoch zeigte sich im Verlauf des Tages, dass durch die im Gesetz formulierten Voraussetzungen sowie die Ausschlussgründe in der Praxis viele Geduldete keine Möglichkeit auf einen Chancenaufenthalt haben, speziell in Bayern:
„Die Vorgaben im Gesetz in Bezug auf strafrechtliche Verurteilungen berücksichtigen die bayerische Rechtsprechung leider nicht. Für aufenthaltsrechtliche Vergehen wie Passlosigkeit liegt das Strafmaß in Bayern häufig so hoch, dass die Betroffenen den Chancenaufenthalt nicht mehr beantragen können“, so Jana Weidhase vom Bayerischen Flüchtlingsrat. „Zudem mussten wir leider feststellen, dass einige Ausländerbehörden in Bayern tief in die Trickkiste greifen, um den Chancenaufenthalt nicht gewähren zu müssen. Beispielsweise entzogen die Behörden bei Antragsstellung die Duldung, sodass die Voraussetzungen für den Chancenaufenthaltstitel nicht mehr gegeben sind. Das läuft dem Sinn des Gesetzes klar zuwider.“
Wenngleich im abgelaufenen Jahr der Chancenaufenthalt vielen Personen einen Ausweg aus dem Duldungsstatus geboten hat, sehen die Organisator:innen des Fachtags perspektivisch noch großen Nachbesserungsbedarf.
„Gerade in ländlichen Regionen Bayerns gibt es kaum Zugang zu Integrationskursen. Unter diesen Bedingungen haben viele Menschen keine Chance, binnen 18 Monaten die Voraussetzungen für einen Integrationsaufenthalt zu erfüllen. Wir befürchten, dass einige Betroffene wieder in den Duldungsstatus zurückfallen werden“, erläutert Agnes Fuchsloch vom Bellevue di Monaco.
Weiterhin wurde im Rahmen des Fachtags mehrfach kritisiert, dass durch die Konstruktion des Gesetzes als Stichtagsregelung später angekommene Geflüchtete von der Möglichkeit ausgeschlossen und die Zahlen von Personen in der Duldung perspektivisch wieder steigen werden.
Die Podiumsdiskussion ist in voller Länge auf youtube verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=94U8BYkMbiY