Chancenaufenthalt: Halbjahreszahlen und Bilanz
Ein halbes Jahr Chancenaufenthalt – Unsere kritische Bilanz
Das neue Chancenaufenthaltsgesetz ist nun seit mehr als einem halben Jahr in Kraft. Die ersten Zahlen aus dem Innenministerium klingen zunächst recht positiv. In Bayern gibt es knapp 29.000 Menschen mit einer Duldung. Davon sind ca. 17.200 Personen länger als 5 Jahre in Deutschland. Im ersten Halbjahr 2023 haben in Bayern um die 12.000 Personen einen Antrag auf den Chancenaufenthalt gestellt. Mehr als 6.000 Personen haben bislang den Chancenaufenthalt nach § 104 c AufenthG erhalten. 942 Anträge wurden abgelehnt. Über einen Großteil der Anträge wurde jedoch noch nicht entschieden.
Den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) und den Bayerischen Flüchtlingsrat haben die vielen positiven Zahlen aus dem Innenministerium überrascht, da unsere Erfahrungen aus der Beratung oder der Vertretung von Mandant*innen eher negativ sind. Das kann in der Natur unserer Arbeit liegen, da sich Menschen an uns wenden, wenn sie Ablehnungen erhalten oder Probleme haben. Um einen ausgewogeneren und größeren Überblick über die Bayerische Praxis zu erhalten, haben der Bayerische Flüchtlingsrat und der RAV gemeinsam in den letzten Monaten Hauptamtliche, Ehrenamtliche und Antragsteller:innen nach ihren Erfahrungen mit dem Chancenaufenthalt befragt. Ein Großteil der Rückmeldungen sind negative Erfahrungsberichte. Leider haben sich hier unsere Erfahrungen bestätigt, dass die Ausländerbehörden jedes Schlupfloch ergreifen um abzulehnen.
Wir haben auch einige positive Rückmeldungen erhalten. Schaut man genauer hin, erkennt man, viele der Personen denen das Chancenaufenthaltsrecht erteilt wurde, hätten früher oder später ohnehin ein Bleiberecht erhalten, da sie z.B. eine Ausbildungsduldung oder eine Beschäftigungsduldung hatten. Rund 700 Personen haben als Ergebnis des Antrags auf einen Chancenaufenthaltdirekt einen Aufenthalt nach 25a oder b (660 Personen) oder einen höherwertigen Aufenthalt (49 Personen) erhalten.
Erstaunlich ist vor allem, dass so viele Anträge bisher nicht entschieden wurden. Viele Ausländerbehörden haben Bearbeitungszeiten von mehreren Monaten. Dies erklärt auch die verhältnismäßig wenigen Ablehnungen. Jedoch haben viele Personen bereits Ankündigungsbriefe von den Ausländerbehörden erhalten. Diese enthielten die Information über beabsichtigte Ablehnungen. Also behördliche Begründungen, weshalb dem Antrag vorraussichtlich nicht stattgegeben werden kann und der Hinweis, dass die Person diesen Antrag lieber zurücknehmen sollte.
Über Umwege sorgen Ausländerbehörden dafür, dass die benötigten Erteilungsvoraussetzungen nicht vorliegen. So werden plötzlich Duldungen ungültig gestempelt, aus heiterem Himmel Strafanzeigen wegen Passlosigkeit gestellt oder Ausweisungsverfahren wegen kleiner ausländerrechtlicher Vergehen eingeleitet. Personen, die bereits einen Pass abgegeben haben, erhalten keine Duldung mehr, da Ausländerbehörden keine Duldungsgründe mehr sehen. Personen, die noch keinen Pass abgegeben haben, erhalten Strafanzeigen wegen Passlosigkeit. Es scheint gezielte Einflussnahmen der Behörden zu geben, die eine Erteilung des Chancenaufenthalts erschweren oder gar verhindern. Einige Behörden bauen bereits bei der Antragstellung trickreiche Hürden ein, die Betroffene verunsichern oder gar von der Antragstellung abhalten: So werden mündlich oder schriftlich unnötige Dokumente und gar Pässe gefordert, die explizit nicht für den Chancenaufenthalt benötigt werden.
Es gibt einiges an Nachhole- und Änderungsbedarf an der Umsetzung des Chancenaufenthaltsrechts in Bayern. Hier müssen sowohl das BMI als auch das bayerische Innenministerium und die Behörden reagieren.
Unsere Ergebnisse und Forderungen haben der RAV und wir am 27. Juli in einer Pressekonferenz vorgestellt und einer Pressemitteilung veröffentlicht.
Pressespiegel
Staatszeitung, 04.08.23
Junge Welt, 02.08.2023
Bayerischer Rundfunk, 31.07.2023
Neues Deutschland, 30.07.2023
Merkur, 28.07.23:
Oberbayerisches Volksblatt, 28.07.2023
TAZ, 27.07.23