Bilanz nach 6 Monaten Chancenaufenthalt: Keine Chance für alle!

Ergebnisse der Pressekonferenz: Bayerischer Flüchtlingsrat und Republikanischer Anwältinnen-
und Anwälteverein sehen Befürchtungen bestätigt und fordern Nachbesserung

Der Bayerische Flüchtlingsrat und der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) haben in den letzten Wochen Anwält:innen, Haupt- und Ehrenamtliche sowie Antragsteller:innen in Bayern nach ihren Erfahrungen zum neuen Chancenaufenthaltsrecht befragt und die Ergebnisse in der heutigen Pressekonferenz vorgestellt.

Mit dem neuen Gesetz zum Chancenaufenthalt nach § 104c AufenthG wollte die Ampel-Koalition langjährig Geduldeten eine Perspektive geben. Bereits vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes zum 01. Januar 2023 äußerten Migrationsrechtsanwält:innen und Menschenrechtsorganisationen Kritik, dass das Gesetz an zentralen Stellen fatale Lücken und Ungenauigkeiten aufweist.

„Nach gut sechs Monaten und einer Befragung unter den Kolleg:innen in Bayern sieht der RAV die Befürchtungen bestätigt, die sie als bayerische Migrationsrechtsanwält:innen in einem offenen Brief zum Chancen-Aufenthalt im Oktober 2022 äußerten“, teilt Rechtsanwältin Antonella Giamattei vom RAV mit.

Auch wenn es durchaus positive Rückmeldungen gibt, zeichnen die geschilderten Fälle ein deutliches Bild. Unklarheiten und Schwachstellen im Gesetz geben Behörden einen großen Entscheidungsspielraum, der in Bayern häufig zulasten der Antragsteller:innen ausfällt. Ein Großteil der Personen, die bereits eine Ablehnung oder die Mitteilung über eine beabsichtigte Ablehnung erhalten haben, scheitert an formellen Erfordernissen, wie z.B. der fehlenden Duldung.

„Das Chancenaufenthaltsrecht setzt vorherige Duldungszeiten voraus. Diese werden in Bayern systematisch nicht erreicht, da statt einer Duldung immer wieder gesetzlich nicht geregelte Grenzübertrittsbescheinigungen ausgestellt werden. Die Verweigerung oder der Entzug von Duldungen hat zur Folge, dass Betroffene aufgrund einseitiger Handlungen der Behörden aus dem Chancenaufenthalt herausfallen“, so Giamattei weiter.

Über Umwege sorgen Ausländerbehörden dafür, dass die benötigten Erteilungsvoraussetzungen nicht vorliegen. So werden plötzlich Duldungen ungültig gestempelt, aus heiterem Himmel Strafanzeigen wegen Passlosigkeit gestellt oder Ausweisungsverfahren wegen kleiner ausländerrechtlicher Vergehen eingeleitet. Personen, die bereits einen Pass abgegeben haben, erhalten keine Duldung mehr, da Ausländerbehörden keine Duldungsgründe mehr sehen. Personen, die noch keinen Pass abgegeben haben, erhalten Strafanzeigen wegen Passlosigkeit.

„Wer bereits einen Pass abgegeben hat, erhält im Zweifel keine Duldung mehr und somit keinen Chancenaufenthalt. Wer keinen Pass besitzt, sieht sich mit einem Strafverfahren konfrontiert und erhält ebenfalls keinen Chancenaufenthalt. Diese Behördenwillkür widerspricht grundlegenden rechtstaatlichen Prinzipien und ist nicht hinzunehmen!“, kritisiert Jana Weidhaase vom Bayerischen Flüchtlingsrat.

Es scheint gezielte Einflussnahmen der Behörden zu geben, die eine Erteilung des Chancenaufenthalts erschweren oder gar verhindern. Einige Behörden bauen bereits bei der Antragstellung trickreiche Hürden ein, die Betroffene verunsichern oder gar von der Antragstellung abhalten: So werden mündlich oder schriftlich unnötige Dokumente und gar Pässe gefordert, die explizit nicht für den Chancenaufenthalt benötigt werden.

„Schon früher hat Bayern massiv Bleiberechtsregelungen unterwandert. Das muss ein Ende haben. Das Bundesinnenministerium muss dringend das Gesetz anpassen und eindeutige und unmissverständliche Weisungen herausgeben. Bayern sollte den Chancenaufenthalt als Chance begreifen, dem Fachkräftemangel sowie der Überlastung der Ausländerbehörden entgegenzusteuern“, fordert Weidhaase.

Unsere Forderungen zur Anwendung des Chancenaufenthaltsrechts in Bayern:

  • Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, müssen eine Duldung erhalten. Keine Ausstellung von nicht gesetzlich geregelten Papieren wie Grenzübertrittsbescheinigungen oder sonstigen bayernspezifischen Fantasiepapieren
  • Keine Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung (z.B. Abschiebungen oder Botschaftsanhörungen) während der Bearbeitungsdauer nach Antrag auf den Chancenaufenthalt
  • Menschen, die bereits einen Pass abgegeben haben, dürfen dafür nicht bestraft werden
  • Keine Einleitung von Strafverfahren wegen Passlosigkeit oder illegalem Aufenthalt nach Antragstellung
  • Keine Einleitung von Ausweisungsverfahren wegen Nichtmitwirkung bei der Identitätsklärung nach Antragstellung
  • Das Datum der Erteilung des Aufenthaltstitels muss der Aushändigung des Aufenthaltstitels sein, um sicherzustellen, dass die 18 Monate Geltungszeitraum des § 104 c AufenthG nicht durch die Bearbeitungszeit der Behörden verrinnen.
  • Großzügige Erteilung, der Entscheidungsspielraum ist im Sinne der Antragstellenden zu nutzen
  • Kein bayerischer Sonderweg

Unsere Forderungen zur Nachbesserung an den Bundesgesetzgeber/das Bundesinnenministerium:

  • Nicht nur ‚Geduldete‘, sondern alle ‚vollziehbar ausreisepflichten Ausländer‘ sollen das Chancenaufenthaltsrecht erhalten können. Dies muss im Gesetzestext bzw. Anwendungshinweisen konkretisiert werden
  • Die Anzahl der Tagessätze muss auf 60/120 Tagessätze, statt 50/90 als Ausschlusskriterium erhöht werden
  • Die Formulierung des § 104c AufenthG muss von ‚soll erteilt werden‘ zu ‚ist zu erteilen‘ geändert werden, um Ermessenspielräume von Behörden zu vermeiden

Offener Brief RAV Migrationsrecht Süd, 31.10.2022: https://www.rav.de/fileadmin/user_upload/rav/themen/auslaender_asylrecht/221031_OffenerBrief_Entwurf_des_sog._Chancen-Aufenthaltsrechts_fin.pdf

Anwendungshinweise des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrecht vom 27.01.2023, https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/wp-content/uploads/2023/02/StMI-IMS-vom-27.01.2023-zum-Chancen-Aufenthaltsrecht.pdf