Ein Jahr Machtübernahme der Taliban in Afghanistan
Wer übernimmt Verantwortung für die Abgeschobenen?
Von Dezember 2016 bis Juli 2021 schob Deutschland fast monatlich in Sammelchartern Menschen nach Afghanistan ab. Selbst zwei Monate vor der Machtübernahme der Taliban im August letzten Jahres fand am 8. Juni 2021 eine Sammelabschiebung statt. Andere Staaten hatten zu diesem Zeitpunkt Abschiebungen nach Afghanistan längst ausgesetzt.
Einer der Abgeschobenen ist F., 24 Jahre. Gleich nach der Abschiebung musste F. wieder flüchten – in den Iran. In Afghanistan war es zu gefährlich.
Das illegale Leben im Iran birgt ebenfalls viele Gefahren – deshalb bricht F. gemeinsam mit anderen Menschen erneut in Richtung Europa auf. Auf der Flucht greift die türkische Armee die Gruppe auf. Die Soldaten schießen – es gibt 14 Verletze. 16 Tage hält die türkische Armee F. und weitere 46 Afghanen fest. Im Gespräch mit Freund:innen von der Seebrücke Aschaffenburg schildert F. Prügel und Misshandlungen. Nach 16 Tagen setzt das Militär F. und weitere Menschen an der iranischen Grenze ab. Doch auch im Iran werden sie unter Waffengewalt mehrere Tage festgehalten. Seitdem befindet sich F. wieder illegal im Iran.
„Deutsche Politiker:innen berufen sich gern auf die Menschenrechte,“ soStephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat. „Afghan:innen setzt Deutschland jedoch durch Nichthandeln und Verschleppung von Evakuierungen vielfachen Menschenrechtsverletzungen aus. Das gilt auch für Menschen, die kurz vor der Machtübernahme der Taliban abgeschoben wurden.“
2015 kam F. nach Deutschland. 2018 stand er kurz vor der Prüfung für das Sprachniveau B2, doch dann kam die Corona Pandemie dazwischen. Arbeiten durfte F nicht – dies hatte die Ausländerbehörde verboten. Bei einem Metzger absolvierte er ein Praktikum und bekam ein Angebot für einen Ausbildungsplatz. Doch die Polizei nahm den jungen Mann fest und F. kam über mehrere Monate in Abschiebehaft.
F. fällt in die Kategorie „Straftäter“, weil er 2020 in einer Diskothek in eine Schlägerei verwickelt war. Wegen Körperverletzung erhielt er eine Verurteilung zu 40 Sozialstunden und acht Monaten auf Bewährung, die er zuverlässig ableistete.
Das alte Ausbildungsplatzangebot des Metzgers steht nach wie vor zur Verfügung. Längst hätte er diese Ausbildung beginnen können. Ob dies nun über ein Visumverfahren gelingt, ist unklar. F. braucht ein teures Visum für den Iran. Auch muss die mehrjährige Wiedereinreisesperre gelöscht werden. Schließlich muss F. die Kosten für vier Monate Abschiebehaft sowie die Abschiebung selbst tragen, was sich auf mehrere Tausend Euro belaufen dürfte.
„Was ist mit der Verantwortung für die Abgeschobenen, die Deutschland sehenden Auges in Verhältnisse geschickt hat, wegen denen sie gleich wieder die Flucht antreten mussten?“, fragt Stephan Dünnwald, Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats. „Entgegen der eindringlichen Warnung des deutschen Botschaftspersonals hielt das Innenministerium bis eine Woche vor der Machtübernahme an Abschiebungen fest. So wurden wissentlich Menschen wie F. in eine absolute Gefahrensituation abgeschoben. Das ist deutsches Totalversagen. Die Bundesregierung muss Verantwortung auch für die nach Afghanistan Abgeschobenen übernehmen, Einreisesperren befristen und Abschiebekosten erlassen.“